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07.07.2025 - Wuttke Feuilleton

Reisebericht Estland – Zwischen Moor und Meridian

Ein Reisebericht von Detlef Wuttke, Juni 2025

Wer als Vermessungsingenieur reist, der sieht die Welt mit einem etwas anderen Blick. Nicht nur Sehenswürdigkeiten oder Naturschönheiten ziehen einen in den Bann, sondern auch Grenzsteine, geodätische Signale oder historische Vermessungslinien. Auf meiner Reise durch Estland Anfang Juni war es jedoch erstaunlich: Es war landschaftlich eine große Freude – aber geodätisch eher mager.

Die estnische Natur zeigt sich im Juni von ihrer besten Seite: viel Sonne, angenehme Temperaturen, beeindruckende Moore und stille Seen, in denen sich der Himmel spiegelt. Auf den Wanderungen begegnet man mit etwas Glück Elchen, Bären und anderen Waldbewohnern. Das Land ist flach, durchzogen von Wäldern und Gewässern, aber ohne nennenswerte Erhebungen – zumindest aus geodätischer Sicht.

Zwei Beobachtungen möchte ich dennoch hervorheben:

  1. Die Spurweite – 1520 Millimeter statt 1435 im Eisenbahnmuseum in Haapsalu
    Das fiel mir sofort auf: Die estnische Eisenbahn verwendet die russische Breitspur mit 1520 mm. Das ist deutlich mehr als die in Mitteleuropa übliche Normspurweite von 1435 mm. Geodätisch betrachtet zeigt sich hier, wie technische Normen sich historisch über politische und kulturelle Grenzen hinweg auswirken. Bei jeder Absteckung, bei jedem Achsbezug ist dieses Detail mitzubedenken. Eine Spurweite ist eben nicht nur eine Zahl, sondern Ausdruck einer ganzen Systemgeschichte.
  2. Der Struve-Bogen – ein Weltkulturerbe der Vermessung
    Ein echtes Highlight war der Besuch eines der Messpunkte des Struve-Bogens – jener legendären Meridianvermessung aus dem frühen 19. Jahrhundert. Friedrich Georg Wilhelm Struve war Professor an der Universität in Tartu (damals Dorpat) und initiierte mit seiner Arbeit die erste grenzübergreifende wissenschaftlich exakte Vermessung eines Meridians.

 

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Struve-Bogen

 

Die Linie reicht von Hammerfest in Norwegen bis ans Schwarze Meer und durchzieht auf über 2.800 Kilometern zehn heutige Staaten. Einige der erhaltenen Messpunkte sind UNESCO-Weltkulturerbe – so auch in Estland. Struves Werk war die geodätische Vorstufe zur mitteleuropäischen Gradmessung und damit letztlich Grundlage für die moderne Landesvermessung in vielen europäischen Ländern.

Ein kurzer Exkurs zur Genauigkeit:
Struve bestimmte im Rahmen seiner Messungen den mittleren Radius der Erde mit erstaunlicher Präzision. Er kam auf einen Wert von etwa 6.378.360 Metern. Der heute international anerkannte Radius nach dem globalen Referenzellipsoid GRS80 beträgt 6.371.000 Meter. Die Abweichung: nur etwa 7.360 Meter – also weniger als 0,12 Prozent!
Für eine Zeit ohne Elektronik, ohne Satelliten oder digitale Auswertung ist das eine herausragende Leistung – ein wissenschaftliches Meisterstück, das bis heute in der Fachwelt anerkannt ist.

Wer dort steht, spürt die Größe dieser Idee: ein gemeinsames wissenschaftliches Projekt über Grenzen hinweg, mit einfachsten Mitteln, aber enormer Genauigkeit. Ein Denkmal der internationalen Zusammenarbeit – lange vor Satelliten, GPS und GNSS.

Mein Fazit:
Estland war landschaftlich großartig, geodätisch diskret – aber mit zwei sehr nachdenkenswerten Details, die zeigen, dass auch leise Signale stark wirken können. Die Spurweite als Sinnbild historischer Raumordnungen – und der Struve-Bogen als geodätische Weltkulturerbe-Achse. Beides inspiriert – und macht neugierig auf den nächsten vermessenden Blick über den eigenen Horizont hinaus.